Die Autorin,
Valerie Gogolin,
lebt in Köln.
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"Die Autorin"

In diesem Buch sind die Originaltexte der Briefe in chronologischer Reihenfolge aufgezeichnet, die mein Vater Paul Rudolf Josef Schlicker - genannt Jupp - an seinen ehemaligen Kriegskameraden Alfred Miller in dem Zeitraum von Juli 1949 bis Ende 1986 nach Kanada geschrieben hat. Es ist ein spannendes Zeitdokument aus dem Nachkriegsdeutschland, über die Chronik zweier Familien und die tiefe Freundschaft zwischen zwei Männern, die über die Entfernung Deutschland - Kanada ein Leben lang bestanden hat. Darin werden sowohl der Wiederaufbau der im 2. Weltkrieg fast völlig zerstörten Stadt Köln als auch die politische Entwicklung der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland beschrieben, wobei neben einer versteckten Liebeserklärung an Köln auch eine Kritik an der Art des Wiederaufbaus nicht zu übersehen ist. Diese Briefe spiegeln auch den Zeitgeist wider, in welchem Literatur von großen Dichtern und Schriftstellern, wie Goethe, Schiller, Heinrich Heine, Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer, Thomas Mann - um nur einige zu nennen - aber ganz besonders Gedichte und Geschichten von Rainer Maria Rilke - eine wichtige Rolle im Leben meines Vaters spielte. In einigen seiner Briefe werden Reisen in die Schweiz auf den Spuren von R.M. Rilke ausführlich dargestellt, z.B. der Besuch seines Zimmers im Schloss Berg am Irchel, wo Rilke von November 1920 bis Mai 1921 lebte. Auch der Besuch des Krankenhauses und seines Zimmers, in dem R.M. Rilke wegen seiner Leukämieerkrankung behandelt wurde, ist ausführlich beschrieben. Aber auch sehr anschaulich schildert mein Vater die Suche nach Rilkes Grab in Raron im Wallis.

Nach dem 2. Weltkrieg wanderte Alfred Müller nach Kanada aus, weil Deutschland in Schutt und Asche lag und er sich dort ein besseres Leben erhoffte. Er wurde kanadischer Staatsbürger und nannte sich fortan „Miller“. Dort wurde er ein sehr erfolgreicher Architekt und hat u.a. die Städte Peace River, Edmonton, Cranbrook, Ottawa, Calgary sowie zahlreiche weitere Städte und große Staudämme geplant und gebaut. Im Rahmen seiner Aktivitäten ist er innerhalb Kanadas sehr oft umgezogen.

Alfred Miller war in dritter Ehe mit Margaret Wright, einer Engländerin, verheiratet, die mit ihren Eltern nach Kanada kam, als sie 6 Jahre alt war. In erster Ehe lebte Alfred Müller mit einer Berlinerin zusammen, in zweiter Ehe mit einer Pariserin.

Als Alfred Miller in Pension ging, zogen er und Margaret nach Victoria (B.C.) auf Vancouver Island. Die letzte Ehe mit Margaret hielt bis zu deren Tod. Beide starben am selben Tag, den 23.08.2004, Alfred um 7:30 Uhr im Krankenhaus mit 93 Jahren, Margaret um 10:45 Uhr in ihrem Haus. Sie wurde 97 Jahre alt und wusste nicht, dass ihr Ehemann kurz zuvor verstorben war. Gemeinsam hatten sie 35 schöne und interessante Jahre verbracht. Sie lebten zusammen und sie starben zusammen.

Mein Vater blieb in Deutschland bzw. in Köln und verdiente sein Geld als Parlamentsstenograf. Bei seinen ersten Einsätzen nach dem Krieg im provisorischen Rathaus zum Protokollieren der Politikerreden musste er im Winter noch seine eigenen Briketts von zuhause zum Beheizen des Ofens mitbringen, um seine Finger zu erwärmen, damit er den Füllfederhalter zum Mitschreiben der Reden führen konnte.

Das Leben eines Parlamentsstenografen ist sehr aufreibend. Von der finanziellen Seite her war mein Vater mit diesem Beruf zufrieden, aber auf der anderen Seite war die nervliche Belastung manchmal sehr groß. Wenn man bis zu 7 Stunden an den Lippen eines Redners hängen, Wort wörtlich alles mitschreiben und dann anschließend das Mitgeschriebene in ein maschinenschriftliches Protokoll übertragen muss, ist dies eine enorme Leistung. Eine Stunde Stenogramm bedeutet etwa 6 bis 8 Stunden Übertragung in Langschrift auf der Schreibmaschine. Und es muss auch noch alles wortgetreu stimmen. Dazu kam auch noch, dass es anfangs nur mechanische Schreibmaschinen gab, die mein Vater nach dem „Adler-Suchsystem“ = „erst kreisen, dann zuschlagen“ bediente, wobei er im Laufe der Zeit mit diesem System recht flott und gleichzeitig schreibsicher wurde.

Später wurden dann auch Tonbandgeräte eingesetzt. Ich kann mich noch an ein Gerät namens „Uher“ erinnern.

Mich interessierte die Stenografie von Kindheit an. Wenn mein Vater um 20:00 Uhr die Nachrichten – zunächst vom Radio, später vom Fernseher – aus Übungsgründen mit stenografierte, saß ich daneben und sah mir das an. Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte lernte ich als Erstes – Stenografie. Heute noch schreibe ich alle meine Notizen in Kurzschrift.

Ich hätte die Tätigkeit als Parlamentsstenografin wohl auch ausgeübt, wenn mein Vater mir – bzw. uns Kindern generell – nicht gesagt hätte: „Wenn einer von Euch Stenograf werden will, dem schlage ich die Finger ab“. In seiner groben - aber gleichzeitig auch herzlichen - Art wollte er uns vor seinem nervenaufreibenden beruflichen Schicksal bewahren.

Nebenbei unterhielt mein Vater eine sehr umfangreiche und bedeutende Sammlung antiker ägyptischer Kleinkunst, alter römischer, alexandrinischer und griechischer Münzen. Er besaß eine Menge wertvoller Bilder, Stiche und Aquarelle, u.a. von Köln. An den Wänden in den Zimmern unseres Hauses gab es kaum noch einen Zentimeter Abstand zwischen den Bildern. Die Wände waren komplett zugehängt. Auch hatte er Biedermeier- und Jugendstilmöbel, eine große Bibliothek mit vielen Schätzen darin, u.a. handsignierte Originalbriefe von Rainer Maria Rilke. Die Kopie eines Briefes von R.M. Rilke ist in diesem Buch abgebildet.

Wir Kinder wurden von ihm tyrannisiert, angebrüllt und manchmal auch geschlagen. Sein Jähzorn trieb schon mal seltsame Blüten. Ein solcher Ausbruch hätte einmal fast mein Leben gekostet, wenn meine Mutter nicht dazwischengefahren wäre. Nach einem solchen Anfall von Jähzorn tat es ihm auch wiederum leid, was er da angerichtet hatte, aber alle Entschuldigungen und materielle Zuwendungen konnten das Geschehene nicht wieder ungeschehen machen. Er hatte sich in dieser Beziehung einfach nicht im Griff. Diese Behandlung hatte zur Folge, dass ich auf einmal anfing, fürchterlich zu stottern. Ich habe dann das Rezept „nicht schneller sprechen als man denkt“, zu meiner Selbsttherapie gemacht. Bis heute habe ich das Stottern nicht ganz abgelegt, habe das aber gut im Griff.

Auch wurde ständig Druck auf uns Kinder ausgeübt, uns „nützlich“ zu machen. Wir wurden in den Garten getrieben, um Unkraut zu jäten, Beete anzulegen, Ränder von Beeten zu begradigen, den Rasen zu mähen, mit der Schere die Ränder um Beete und Trittsteine vom Gras zu befreien, Bäume zu schneiden, Obst zu ernten, Briketts im Keller zu stapeln usw. usw. Wenn wir nur mal ein paar Minuten irgendwo herumsaßen wurden wir „flüssig“ gemacht, zu irgendeiner Arbeit angetrieben. Für meinen Vater waren wir Kinder einfach nur „unnütze Fresser“. Mich bezeichnete er öfters als „unnützes Stück Möbel“ oder auch „Saumensch“ und „Miststück“. Meinen jüngeren Bruder Wolf beschimpfte er als „haariges Vieh“, weil er lange Haare trug. Als ich mit 17/18 Jahren keinerlei Anstalten machte zu heiraten und Kinder zu bekommen, sondern einen Beruf, vor allem Fremdsprachen, lernen und ein selbständiges Leben führen wollte, beschimpfte mein Vater mich als „bevölkerungspolitischer Blindgänger“ und drohte in Gegenwart meiner Mutter, die mir das später erzählte: „Diesem Mistmensch werde ich seinen Bildungsfimmel schon noch austreiben“.

Erst später habe ich verstanden, dass ein Mensch, der 2 Jahre Arbeitsdienst und 6 Jahre Krieg hinter sich hat, nicht mehr derselbe sein konnte, der er vor dieser Zeit wohl gewesen sein muss. Es gab damals keine psychologische Betreuung, wie es sie heute für Soldaten gibt, die in Krisengebieten eingesetzt werden (Kriege gibt es ja offiziell nicht mehr, nur noch „Krisen“) und traumatisiert sind. Diese Kriegsgeneration, die um einen entscheidenden Abschnitt ihres Lebens betrogen wurde, musste für sich alleine mit den fürchterlichen Erlebnissen und Eindrücken fertig werden, und diese verfolgten sie oft bis an ihr Lebensende. Dies geht insbesondere aus dem ersten Brief meines Vaters vom 01.07.1949 hervor.

Mein Vater hat es nie geschafft - oder auch nie gewollt - seinen Freund in Kanada zu besuchen. In seinen Briefen bedauert er in gewissen Zeitabständen immer wieder, dass Alfred so weit weg ist. Alfred Miller versuchte 1964/1965 beruflich wieder in Europa (Groß-Britannien) Fuß zu fassen. Ein Grund zur Rückkehr nach Europa war nach seiner Meinung überwiegend der Mangel an Kultur, die es nun mal in der „Neuen Welt“ nicht gibt, so, wie wir sie in Europa kennen. Die schlechte wirtschaftliche Lage in Groß-Britannien - auch schon zum damaligen Zeitpunkt - hatte eine berufliche Rückkehr nach Europa nicht zugelassen, so dass Alfred Miller endgültig nach Kanada zurückkehrte und bis zu seinem Tode dort blieb.

Mein Vater ist auch nie nach Ägypten gekommen, was er sich von seinem Freund Alfred immer gewünscht hatte, dass er dorthin ginge. Auch war mein Vater grundsätzlich der Meinung, dass er nicht in die Welt reisen müsste, sondern dass die Welt durch Bücher zu ihm käme. Er ist nie über die Niederlande, Österreich und die Schweiz hinausgekommen. Wenn der noch das Internet erlebt hätte!

Auch hat es mein Vater nie geschafft, den Führerschein zu machen. Er hatte es heimlich versucht. Wir Kinder sind dahinter gekommen, weil einiges in seinem Lebensrhythmus anders war, als sonst. Als wir ihn darauf ansprachen sagte er mit – ganz seltener – Selbstironie: „Ich kann keinen Führerschein machen, ich würde an jeder Kreuzung eine Schlägerei anfangen“.

Den Beruf als Stenograf übte mein Vater bis zu seinem Tode aus. Er starb am 31.01.1987 im Alter von 73 Jahren an Blasen- und Nierenkrebs. Er hätte noch länger leben können, wenn er seine Krankheit nicht unterdrückt bzw. ignoriert hätte. Aber sein Standpunkt war: Krankheit ist Dummheit, und nur dumme Menschen würden krank, und da er sich nicht als dumm ansah, war er folglich auch nicht krank. Eine verhängnisvolle, ja letztendlich tödliche Einstellung; die wohl einerseits Charaktersache war, aber andererseits sicherlich zum Teil noch aus der Nazizeit herrührte. Bloß keine Schwäche zeigen! Als mein Vater ins Krankenhaus kam, wogegen er sich bis zuletzt gewehrt hatte – sein Körper war schon vergiftet, weil eine Niere vom Krebs völlig zerstört war und die andere Niere kaum noch arbeitete – beschimpfte er die Ärzte als Arschlöcher, die ihm nur nach dem Leben trachten würden, ihn mit Medikamenten vergiften wollten. Schließlich warf er mit den Medikamenten nach den Ärzten. Als er Bluttransfusionen bekam fragte er sehr aufgebracht, ob diese auf Aids geprüft wären. Er wolle nicht an Aids sterben. Ein Arzt muss meinem Vater dann wohl gesagt haben: „Herr Schlicker, machen sie sich da mal keine Sorgen. Ehe Sie an Aids sterben, sind Sie längst Ihrer Krebskrankheit erlegen“.

Bei den weiteren Namen, die in den Briefen vorkommen, ist Lotte meine Mutter, Lutz mein 3 Jahre älterer Bruder, und Wolf – auch Wölfchen genannt – mein 6,5 Jahre jüngerer Bruder. Ingrid war die zweite Frau meines Vaters. Sie verstarb am 01.02.2016.

Dieses Buch ist dieser außergewöhnlichen Freundschaft gewidmet, an der mein Mann und ich über all die Zeit teilgenommen haben, und aufgrund dieser Verbindung dieses Buch überhaupt entstanden ist.

 

 Köln, 2016